Jahrzehnte lang pflegte die HOCHBAHN eine Sicht auf die Zeit des Nationalsozialismus, bei der die Kriegsschäden an Strecken, Gebäuden und Fahrzeugen im Vordergrund standen. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle und Nähe zum NS-Regime fand nicht statt. Die Frage der Beschäftigung von Zwangsarbeitern wurden einfach übergangen. Erst in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre änderte sich der Blick und die Auseinandersetzung mit der Unternehmensgeschichte wurde differenzierter und kritischer.
Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 begann die nationalsozialistische Machtübernahme. Bei dieser wurden auch die von der Verfassung der Weimarer Republik garantierten Grundrechte schrittweise außer Kraft gesetzt, allen voran die Presse- und die Versammlungsfreiheit. Durch das „Ermächtigungsgesetz“ vom 24. März 1933 verlor dann das Parlament seine Kontrollfunktion gegenüber der Regierung und die nationalsozialistische Regierung selbst erhielt die Gesetzgebungskompetenz. Damit war die nationalsozialistische Diktatur zementiert. In Hamburg wählte die Bürgerschaft mit Hilfe der bürgerlichen Parteien am 8. März 1933 einen von der NSDAP geführten Senat mit Carl Krogmann als Erstem und Regierendem Bürgermeister. Die Einsetzung von Karl Kaufmann als Reichsstatthalter am 16. Mai 1933 vollendete die Machtübernahme der Nationalsozialisten an der Elbe schließlich.
Der Herrschaftsanspruch der Nationalsozialisten blieb jedoch nicht auf die politische Macht beschränkt. Vielmehr war die Durchdringung und „Gleichschaltung“ der gesamten Gesellschaft und aller Lebensbereiche das Ziel. Ab April 1933 begann die „Gleichschaltung“ des öffentlichen Dienstes mit der Entlassung jüdischer und politisch nicht genehmer Beschäftigter. Darauf folgte die staatlich geforderte, oft aber bereitwillig durchgeführte „Gleichschaltung“ von Verbänden, Vereinen und Unternehmen.
Die HOCHBAHN wird „gleichgeschaltet“
Bei der HOCHBAHN begann die „Gleichschaltung“ mit der Amtsenthebung und Beurlaubung des seit Mai 1911 amtierenden Vorstandsvorsitzenden Wilhelm Stein am 10. April 1933. Sein Nachfolger wurde am selben Tag Friedrich Stanik, der als Staatskommissar für die HOCHBAHN nun das Unternehmen führte. Auch andere Vorstandsmitglieder, leitende Mitarbeiter sowie Beschäftigte aus dem Fahrdienst und den Werkstätten wurden durch NSDAP-Mitglieder und NS-Funktionäre ersetzt. Insgesamt traf es fast 260 Mitarbeiter*innen, vor allem diejenigen, die der SPD oder KPD nahestanden oder auch nur verdächtig waren, dem NS-Regime nicht nahe genug zu stehen.
Um die Belegschaft intensiver auf die nationalsozialistische Linie zu bringen, wurden Propaganda-Reden gehalten und Fahnenappelle durchgeführt. Oder auch neue Sozialprogramme aufgelegt, um auch die Familien von den „Vorzügen“ des Regimes zu überzeugen. In der neu geschaffenen Betriebszeitschrift „Stirn und Faust“ wurden Reden Adolf Hitlers ebenso abgedruckt wie rassistische Hetze betrieben, offener Antisemitismus propagiert und von Kriegseinsätzen von Hochbahnern in Osteuropa „berichtet“, um so die Hochbahner*innen direkt im Sinne des Regimes ideologisch zu beeinflussen.
Diskriminierung jüdischer Fahrgäste
Die vom NS-Regime vorangetriebene Diskriminierung und immer weiter verschärfte Ausgrenzung jüdischer Menschen fand auch in den Verkehrsmitteln der HOCHBAHN statt. Auf Anordnung des Reichsverkehrsministeriums durften Juden ab dem 18. September nur noch bestimmte Verkehrsmittel nutzen, und das auch nur mit polizeilicher Erlaubnis und außerhalb der Hauptverkehrszeiten. Sitzplätze durften nur genutzt werden, wenn andere Fahrgäste dann nicht stehen mussten. Einen Tag später trat eine Polizeiverordnung in Kraft, die das sichtbare Tragen des sogenannten „Judensterns“ verpflichtend machte.
Im Februar 1942 ordnete das Reichsinnenministerium dann an, dass die Nutzung von Verkehrsmitteln durch Juden „auf ein äußerstes Mindestmaß zu beschränken“ sei. Ein komplettes Beförderungsverbot in öffentlichen Verkehrsmitteln wurde allerdings ebenso wie die Einrichtung separater Abteile nicht umgesetzt. Mit der diskriminierenden Stigmatisierung durch den „Judenstern“ dürfte sich die Zahl der jüdischen Fahrgäste allerdings ohnehin stark reduziert haben. Vom Personal geduldete Beschimpfungen und tätliche Angriffe auf Juden an Haltestellen und in Fahrzeugen sind aus dieser Zeit überliefert.
Beschäftigung von Zwangsarbeitern
Der mit dem deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 begonnene Zweite Weltkrieg wirkte sich unmittelbar auf die HOCHBAHN aus. Denn noch im Herbst 1939 wurden 1 500 Mitarbeiter zum Kriegsdienst eingezogen. Dem dadurch entstandenen Personalmangel versuchte die HOCHBAHN zunächst durch die Erhöhung der täglichen Arbeitszeit von 8,5 auf bis zu zehn Stunden zu begegnen. Gleichzeitig wurden, wie schon im Ersten Weltkrieg, mehr Frauen eingestellt, 1940 waren 10 Prozent der Belegschaft weiblich. Hinzu kamen sogenannte „Arbeitsmaiden“, von denen 1942 mehr als 500 bei der HOCHBAHN beschäftigt waren. Reichsweit waren junge und unverheiratete Frauen zu täglich bis zu sieben Stunden Dienst verpflichtet, bei der HOOCHBAHN meist als Schaffnerinnen.
Die hohe Zahl an Kriegsverpflichteten führte mittelfristig in nahezu allen Wirtschaftsbereichen zu Personalmangel. Um dem reichsweit entgegenzuwirken, verschleppten die Nationalsozialisten ausländische Arbeitskräfte aus den besetzen Gebieten und zwangen sie in kriegswichtigen Betrieben und der Rüstungsindustrie zur Arbeit. Etwa 12 Millionen Menschen wurden während des Zweiten Weltkrieges auf diese Weise zur Arbeit in der deutschen Wirtschaft zwangsverpflichtet.
Hieran beteiligte sich auch die HOCHBAHN, die im März 1941 zunächst die Zuweisung von 85 Italienern beantragte. Diese Zivilarbeiter, die in einem eigens eingerichteten Lager in einer Wagenhalle an der Billstraße in Rothenburgsort untergebracht waren, wurden hauptsächlich im Gleisbau eingesetzt. 1943 befand sich dort dann ein „Franzosenlager“. Weitere Lagerstandorte sind für die heutige Von-Sauer-Straße, die Tesdorpfstraße und die Werkstatt Falkenried in Eppendorf nachgewiesen. Die Geschäftsberichte für 1941 und 1942 – die letzten, die im „Dritten Reich“ erstellt wurden – erwähnen den Einsatz von „ausländischen Arbeitskräften“ ohne nähere Informationen. Besprechungsprotokolle vom Sommer 1943 geben zudem Hinweise auf das „Franzosen-“ und das „Russenlager“. Jedoch wiederum ohne vertiefende Angaben etwa zur Anzahl, den Einsatzgebieten, der Versorgung und Behandlung. Allerdings stimmte der Betriebsrat im Herbst 1945 der Entlassung eines HOCHBAHN-Mitarbeiters zu, der einen italienischen Zwangsarbeiter misshandelt hatte.
Mythos der eigenen Unschuld
Das über Jahrzehnte gepflegte Narrativ der Hochbahn, sie sei vor allem während des Krieges durch Bombenschäden an U-Bahn-Strecken und Betriebsgebäuden sowie durch den Verlust von Fahrzeugen schwer gebeutelt gewesen, hätte ansonsten aber keine tiefere Rolle im Nationalsozialismus gespielt, ist historisch eindeutig widerlegt.
Selbst die verhältnismäßig wenigen Akten und Dokumente, die zum Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg erhalten sind, zeigen ein Bild vielschichtiger Verflechtungen und Verstrickungen. Folgerichtig beteiligte sich die die Hochbahn im Jahr 2000 am Entschädigungsfonds der Bundesstiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ zur Entschädigung ehemaliger Zwangsarbeiter und übernahm damit moralisch ihre Verantwortung. Die Ausstellung „Unterwegs. 90 Jahre U-Bahn“ im Museum der Arbeit thematisierte 2002 dann auch die Rolle der Hochbahn während des Nationalsozialismus erstmals öffentlich, was wesentlich zu einer veränderten Sicht auf die eigene Unternehmensgeschichte beitrug und das Opfer-Narrativ entkräftete.
Eine tiefgehende Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex erfolgte dann 2010 im Zuge einer von der „Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg“ erarbeiteten wissenschaftlichen Studie zur Hochbahn im „Dritten Reich“. Sie erschien 2010 in der Reihe „Forum Zeitgeschichte“ (Nr. 22).
Damit war ein wichtiger Meilenstein in der wissenschaftlich-kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der HOCHBAHN im „Dritten Reich“ gemacht, insbesondere hinsichtlich der Verbrechen. Zudem wurden in der Studie erstmals alle bis dahin gefundenen Akten und Dokumente als Quellen nachvollziehbar zusammengetragen.
Abgeschlossen ist die Aufarbeitung der NS-Zeit damit aber nicht. Die HOCHBAHN tauscht sich weiterhin mit Forschenden aus, vernetzt sich mit Institutionen und sucht in Archiven nach Akten und Dokumenten, um ihre eigene Rolle im „Dritten Reich“ nachzuvollziehen und für die Zukunft dokumentieren zu können.
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Vielen Dank für die wichtige Aufklärungsarbeit und die Aufarbeitung der eigenen Geschichte.
Ich würde mir darüber hinaus klar wünschen, dass die Hochbahn auch bei der Benennung und Umbenennung der eigenen Haltestellen historische Verantwortung übernimmt und Wegbereiter, Profiteure und Sympathisanten der NS-Diktatur nicht mit einem Haltestellennamen zusätzlich ehrt.
Die Debatte um das Haus Hohenzollern, um Paul Hindenburg, die aktuelle Debatte um Bernhard Nocht und die immer wieder verstörenden Verwicklungen der Familie Hagenbeck sind da nur die Spitze des Eisberges.
Ich würde mich freuen, wenn die Hochbahn (zusammen mit ihren Partnern im HVV) die Namen einzelner Haltestellen grundsätzlich überdenkt.
Mehr zum Thema:
https://www.hamburg.de/contentblob/4462748/f146667a5a817e970e6e753e419481f4/data/ns-belastete-strassennamen.pdf
Moin,
die Auseinandersetzung mit der nunmehr 111-jährigen Unternehmensgeschichte schließt selbstverständlich auch den Nationalsozialismus ein. Insbesondere für diese Zeit gilt, dass die Auseinandersetzung damit, die Forschung und Aufbereitung sicherlich nicht endlich sind und wir auch weiterhin die offene Kommunikation pflegen werden.
Die Arbeit an historischen Themen findet zudem nicht losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Debatten statt, etwa der im Moment geführten um Straßennamen, oder der Frage, wie mit dem Bismarck-Denkmal umgegangen werden sollte. Diese Debatten sind wichtig, müssen geführt werden und letztlich auch in den Unternehmensalltag einfließen. Das ist mitunter nicht ganz einfach, denn die Benennung einer U-Bahn-Haltestelle dient tatsächlich in erster Linie der Orientierung der Fahrgäste. Hagenbecks Tierpark weißt demnach auf den Zoo hin. Die Debatte um die Verstrickung der Familie Hagenbeck etwa in den Komplex des Kolonialismus aufzuzeigen und aufzuarbeiten ist zunächst Aufgabe der Forschung und der kritischen Öffentlichkeit. Das gilt natürlich auch für andere Benennungen und Straßennamen, die oftmals ja zurecht kritisch bewertet werden. Wir verfolgen diese Debatte, haben auf ihren Verlauf im Blickfeld und sind uns der Sensibilität der Thematik sehr bewusst.
Moin, ich persönlich halte die Verbannung solcher Straßen-oder Stationsnamen nicht für sinnvoll. Mit den verschwundenen Namen verschwinden auch deren Handlungen aus dem Fokus. Eine aktive Dokumentation und Auseinandersetzung dazu belässt die Vergangenheit, auch weniger Interessierter, besser in Erinnerung.
Interessanter Text! Allerdings fehlt leider eine Jahreszahl („Auf Anordnung des Reichsverkehrsministeriums durften Juden ab dem 18. September nur noch bestimmte Verkehrsmittel nutzen“).
Moin Bernd, schön, dass der Artikel mit Interesse gelesen wurde. Die Anordnung wurde am 18. September 1941 erlassen.
Sehr interessanter Bericht !
Dass im Herbst 1945 ein HOCHBAHN-Mitarbeiter mit Zustimmung des Betriebsrates wegen Misshandlung eines (Fremd-)arbeiters entlassen wurde ist m.E. normal, da der 2. Weltkrieg im Mai beendet wurde und die britische Besatzungsmacht das Sagen hatte. (Siehe auch Nutzung der U-Bahn durch britische Soldaten)